Leseprobe aus "Kellergassentod"

Prolog

 

1

 

Am Abend des 11. August, einem Samstag, fuhr der 57-jährige Paul Oswald gegen neunzehn Uhr nach einem enttäuschenden Fußballmatch mit seinem alten Mazda von seinem Haus in Kohfidisch hinauf auf den Hochcsater. Dort bewirtschaftete er seit drei Jahren ganz allein einen kleinen Weingarten. Früher hatte sich sein Vater um alles gekümmert. Oswald war nur helfend zur Seite gestanden, wenn dies von ihm ausdrücklich verlangt wurde. Von Beruf eigentlich Maschinenschlosser, betrachtete Oswald die Arbeit im Weingarten inzwischen aber als angenehme Möglichkeit, um zu jeder Zeit eine geeignete Ausrede vor seiner Frau zu haben. Diese hatte er vor nunmehr bereits 23 Jahren eher aus einem inneren Gefühl der Bequemlichkeit denn aus echter Liebe geheiratet. Und seit dem ersten Tag, seit dem sie zusammen mit seinen Eltern in einem Haus lebten, ging er ihr aus dem Weg, wann immer es nur möglich war. Die Ehe war kinderlos geblieben. Oswald hatte nie darüber nachgedacht, warum das so sei. Es war nicht seine Art, sich über derlei Gedanken zu machen. Er lebte, arbeitete und trank, und Letzteres nicht zu wenig.

 

Obwohl das Autoradio seines alten Mazda kaum mehr als ein Rauschen von sich gab, hob sich der Gong der Neunzehn-Uhr-Nachrichten irgendwie doch davon ab. Wenig später stieg Oswald vor dem kleinen Kellerstöckl aus dem ungewaschenen Wagen. Er öffnete mit einem riesigen Schlüssel den Weinkeller und warf einen Blick in das fast finstere Gewölbe. Die Sonne stand schon ziemlich tief, und elektrisches Licht gab es nicht. Er drehte sich aber bald wieder um und ging hinauf in den kleinen Raum, der genau oberhalb des Weinkellers lag.

 

Beim Öffnen der Tür schlug ihm aus dem nur wenige Quadratmeter großen Raum, in dem sich außer einem Ofen nur ein kleiner Tisch, zwei alte Stühle und eine nicht weniger alte Couch befanden, wegen der schon seit Wochen anhaltenden Hitzewelle eine derartige Wärme entgegen, dass Oswald die Tür einige Zeit offen halten musste, um ein wenig von der langsam etwas frischeren Abendluft einströmen zu lassen. Er entzündete zwei Kerzen an einem Leuchter, der eigentlich vier Kerzen Platz geboten hätte. Doch schon seit Jahren hatte Oswald, weil er es so gewohnt war, immer nur zwei mit. Er wollte die Nacht hier heraußen auf dem Weinberg verbringen, um gleich bei Sonnenaufgang mit seiner Arbeit, dem Abfüllen von Wein aus einem der großen Fässer, beginnen zu können. Natürlich war das nur eine Ausrede vor sich selber und vor seiner Frau, um wenigstens diese eine Nacht nicht zu Hause schlafen zu müssen. Denn genauso gut hätte er frühmorgens aufstehen und die kurze Strecke von gerade einmal fünf Kilometern zurücklegen können.

 

Nachdem der Raum ein wenig durchlüftet war, streckte sich Oswald gemütlich auf der Couch aus und starrte an die in diesem Gemisch aus Dämmer- und schwachem Kerzenlicht nur als dunkle, undeutliche Fläche erkennbare Holzdecke. Irgendwo da oben befand sich eine Art Inschrift, die er vor fast vierzig Jahren dort eingeritzt hatte. „Ulli“ stand da in ungeschickt zittrigen Buchstaben, er sah es vor sich, obwohl er es nicht erkennen konnte. Doch das Gesicht des Mädchens, zu dem die wenigen Buchstaben gehörten, ließ sich nicht heraufbeschwören. Vielleicht wollte Oswald das auch gar nicht, schließlich gehörte es zu einem längst vergangenen Abschnitt seines Lebens, und es war eben nicht seine Art, über Vergangenes oder Zukünftiges nachzugrübeln. Die Gegenwart lastete schwer genug auf ihm, und nur in solchen Momenten wie in diesem, hier heraußen in seinem Weinkeller oder unten im Dorf auf dem Fußballplatz, empfand er überhaupt etwas anderes als verhaltenen Ekel und Abscheu vor sich selber und seinem Drumherum. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen, doch viel mehr wusste er nicht. Er hatte es nie gewagt, sie anzusprechen, warum auch hätte sie, auf die nahezu jeder Junge im Dorf ein Auge geworfen hatte, gerade mit ihm sprechen sollen? Und dann war sie eines Tages weg aus Kohfidisch. Wahrscheinlich hatte sie geheiratet, vielleicht auch nicht, war ja auch egal, sinnlose Gedanken. Oswald erhob sich noch einmal träg und griff nach seinem bereits halbleeren Weinglas auf dem Tisch, um mit ein paar kräftigen Schlucken alles von sich wegzuspülen. Nie hätte er sich und schon gar nicht seiner Frau eingestanden, dass er gerne an junge, hübsche Mädchen dachte. Ja, er sah ihnen hinterher, nur verstohlen und wenn er sich unbeobachtet glaubte, versteht sich, doch zwei stramme Mädchenschenkel konnten ihn schon so erregen, dass er die sonstige Vorsicht auch einmal vergaß und sich den Spott seiner Frau einhandelte, wenn sie ihn bei seinen lüsternen Blicken ertappte und sich darüber lustig machte.

 

Eine seltsame Erregung ergriff von Oswald Besitz. Um dieses unangenehme Gefühl wieder abzuschütteln, stand er nochmals auf und ging ins Freie. Langsam begann es dunkel zu werden, die Sonne hatte sich bereits hinter dem Abhang mit den Weingärten versteckt. Er hätte sich auch zwischen die dicht belaubten Weinstockreihen stellen und ein bisschen etwas von seinem inneren Druck abrinnen lassen können. Doch wie gewohnt wählte er einen anderen Weg und ging über die Straße in den angrenzenden Wald. Als er seine Notdurft verrichtet hatte und schon wieder umkehren wollte, glaubte er etwas gehört zu haben. Was war das? Er stand still und lauschte. Da war es wieder. Flüsterte da jemand? Er ging einige Schritte weiter in den Wald hinein, den steilen Waldweg hinab, der in die dicht verwucherte Schlucht gleich unterhalb seines Weingartens führte. Die Stimmen wurden lauter, ohne dass er genau begriffen hatte, was er da hörte, aber sein Unterleib schien es verstanden zu haben. Eine noch seltsamere Erregung als vorhin erfasste ihn. Vorsichtig schlich er näher, und dann sah er sie. Sie hatten sich zwar eine Stelle ausgesucht, die besonders dicht verwachsen war, und nicht zuletzt wegen der einbrechenden Dunkelheit konnte Oswald bei weitem nicht alles erkennen, obwohl er schon ganz nahe stand. Aber er sah die fast weiß wirkenden Brüste der Frau und zwei Hände, die sich von hinten an ihnen zu schaffen machten. Oswald spürte, wie ihm heiß im Gesicht wurde und dass sein Verstand, der auch sonst nicht sehr rege war, jetzt ganz auf Leerlauf geschaltet hatte. Er schaute zwar, aber er sah noch immer so wenig, dass er sich langsam weiter annäherte. Die beiden stöhnten derartig laut, dass Oswald das Knacken der kleinen Äste unter seinen Füßen selber nicht hörte. Er war wohl kaum noch drei Meter von dem Pärchen entfernt, doch viel mehr als die durch ihre rhythmischen Bewegungen noch kunstvoller erscheinende blätterbedeckte und blätterentblößte Nacktheit der Frau erkannte er noch immer nicht. Und dann der Schrei. Einen Moment Starre und Stille. Entsetzte Augen, die ihn durch die Blätter anstarrten. Seine ungeschickten Bewegungen. Und dann war Oswald völlig außer Atem, aber wieder vor seinem Keller.

 

Als Oswald hinter sich abgeschlossen hatte, merkte er erst, wie schweißgebadet er war. Das Ganze kam ihm wie ein böser Alptraum vor. Hatten sie ihn erkannt? Er fühlte sich bloßgestellt, ertappt und entlarvt. Und eine sinnlose, panische Angst erfasste ihn bei dem Gedanken, seine Frau könnte davon erfahren.

 

Oswald schenkte sein Weinglas noch einmal voll und leerte es dann rasch in einem Zug, ehe er sich wieder auf die Couch legte und es sich zum Schlafen bequem machte. Die Kerzen würden von allein erlöschen, er brauchte sie ja nicht mehr, denn vor Sonnenaufgang würde er sowieso nichts tun können.

Er wusste nicht, wie spät es war, auf jeden Fall musste er schon einige Zeit geschlafen haben, denn in dem kleinen Raum war es bereits stockfinster, die Kerzen hatten ihr kurzes Leben inzwischen ausgehaucht. Seine Armbanduhr, ein Erbstück seines Großvaters, war viel zu alt, um mit Leuchtziffern oder dergleichen ausgestattet zu sein. Und so half auch die größte Anstrengung und Konzentration nichts, Oswald konnte nicht erkennen, wie spät es war. Er wusste eigentlich auch nicht genau, wozu er das jetzt überhaupt wissen wollte. Normalerweise schlief er zwar tief und fest und ohne aufzuwachen die Nacht durch, aber eine derartige Sensation war sein Erwachen auch wieder nicht, dass man gleich die genaue Uhrzeit hätte notieren müssen. Oswald verschwendete auch nicht allzu viel Mühe darauf, drehte sich indes auf die andere Seite, was auf der engen Couch gar kein leichtes Unterfangen war, und richtete sich für den Rest der Nacht her. Er hatte keinesfalls vor, noch einmal aufzuwachen. Doch kaum, dass er wieder ruhig dalag, vernahm er deutlich einen dumpfen Knall. Oswald wusste nicht, was es war, doch hatte es sich so angehört, als hätte jemand in unmittelbarer Nähe seines Weinkellers eine Autotür zugeschlagen. Oder war es doch etwas anderes gewesen? Oswald dachte zwar einen Moment lang über in Frage kommende Möglichkeiten nach, doch schien ihm längeres Grübeln nicht angebracht, zumal zu dieser Nachtzeit. Aber waren da nicht auch Stimmen? Oswald hob seinen Kopf ein wenig und lauschte in die Dunkelheit. Doch nun war nichts mehr zu hören. Vielleicht hatte er sich das Ganze ja auch nur eingebildet. Jedenfalls unternahm Oswald keinerlei Versuch, aus dem Kellerstöckl hinauszugehen und sich von der möglichen Herkunft des Gehörten ein genaueres Bild zu machen.

 

2

 

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch der Morgen dämmerte schon kräftig, als Oswald sich von der Couch erhob. Er griff in seine Rocktasche und holte ein Tuch hervor, in das er eine dicke Scheibe Brot eingewickelt hatte. Man kann wohl kaum sagen, dass Oswald sein Frühstück zu einem Zeremoniell ausgestaltete, denn er schlang das trockene Brot richtiggehend hinunter und spülte mit einem Viertel Weißwein nach. Die mittlerweile halbleere Doppelliterflasche, die er schon gestern hier herauf in die Stube getragen hatte, weil er kalten Weißwein nicht mochte, und sein Glas ließ er stehen und verließ den kleinen Raum, um nach unten in den Weinkeller zu gehen. Dort war es noch sehr dunkel, doch er hatte ja auch gar nicht vor, jetzt schon mit der Arbeit zu beginnen. Er wollte keinesfalls vor Mittag zu Hause sein, und seiner Frau, die sich überhaupt nicht für die Arbeit in Weinkeller und Weingarten interessierte, war leicht weiszumachen, dass das Abfüllen mit allen Vorbereitungen den ganzen Vormittag über in Anspruch genommen habe. Oswald hatte also noch genügend Zeit, um gemütlich ein paar Glaserl Wein zu trinken und die Ruhe zu genießen. Natürlich durfte er nicht völlig betrunken nach Hause kommen. Er brauchte wirklich keine Auseinandersetzung mit seiner Frau, das wäre ihm viel zu anstrengend gewesen. Und wozu auch? Seine Frau würde sich dadurch auch nicht mehr ändern, und sie zu verlassen, daran hatte er nie gedacht. So unerträglich ihm das Leben mit ihr auch vorkam, ein Leben allein konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Schließlich hatte er seinerzeit ja auch deshalb geheiratet, damit jemand im Haus sauber machte und kochte und sein Leben organisierte.

 

Oswald ließ die Tür zum Weinkeller offen und warf einen Blick in die Zisterne, die sich gleich neben dem Eingang befand, denn er musste ja noch die Flaschen ausspülen, bevor er sie mit Wein füllte. Er überzeugte sich davon, dass genügend Wasser vorhanden war, holte einen Plastikeimer aus dem Weinkeller und trug ihn, mit Wasser gefüllt, hinauf in die Stube. So, als sei fürs Erste genügend Anstrengung absolviert, setzte er sich auf einen der beiden Stühle am Tisch und schenkte erneut sein Glas voll. Es würde sogar noch Zeit genug sein, sich nochmals ein wenig auf die Couch zu legen, doch zuvor wollte er für das Waschen der Flaschen alles vorbereitet haben. Deshalb erhob er sich wieder, holte eine Flaschenbürste aus dem Weinkeller und schickte sich an, die Kiste mit den zehn Doppelliterflaschen aus dem Kofferraum seines Autos in die Stube hinaufzutragen. Während er sich seinem Auto näherte, bemerkte er, dass er in der Nacht vielleicht doch richtig gehört hatte. Denn unweit von dem seinen war tatsächlich ein anderer Wagen genau dort abgestellt, wo die befestigte Bergstraße in einen eher nur schlecht befahrbaren Waldweg überging. Neugierig geworden legte er die paar Meter bis zu dem fremden Auto zurück. Das Erste, was ihm auffiel, war das Kennzeichen. Fremde verirrten sich nur äußerst selten hier herüber, ganz ans Ende des Weinbergs. Was also machte dieser Wagen mit Neusiedler Kennzeichen hier? Oswalds Phantasie reichte in diesem Moment nicht aus, um sich einen Reim darauf zu machen. Also ging er näher. Er fragte sich, wo sich der Lenker und mögliche weitere Mitfahrer aufhielten und warum sie ihren Wagen mitten in der Nacht hier abgestellt hatten. Oder war das Auto gestern Abend schon da gestanden? Während er noch darüber nachdachte, war er dem Auto so nahe gekommen, dass er ins Innere sehen konnte. Außer einer dicken, karierten Decke auf dem Beifahrersitz erblickte er aber nichts, was auffällig gewesen wäre. Als Oswald einmal um den fremden Wagen herumgegangen war und wieder in sein Kellerstöckl zurückkehren wollte, näherte sich ein weiteres Auto. Vermutlich nutzte ein anderer Kellerbesitzer die noch kühle Morgenstunde, um nach dem Rechten zu sehen. Doch als Oswald Wagen und Fahrer erkannte, wusste er, dass es sich nicht um einen seiner Nachbarn handelte. Kurz darauf hatte der Mann seinen Wagen hastig gewendet und war wieder auf dem Rückweg nach Kohfidisch.